Meine Familie väterlicherseits stammen aus Ostpreußen. 1945 kamen sie auf der Flucht nach Uhrsleben, ein kleines Dorf 30 km nordwestlich von Magdeburg. Meine Familie mütterlicherseits kommt aus Friedrichswald im ehemaligen Sudetenland. Als Vertriebene kamen sie in den Harz nach Ballenstedt. In Leipzig lernten sich meine Eltern als Studenten kennen. Als Kind lauschte ich manchmal gespannt den alten Geschichten, aber heute sind sie auch bei mir in Vergessenheit geraten. Doch da gibt es glücklicherweise die Erinnerungen meiner Tante Gudrun. Als Älteste der Geschwister Griehl der Generation meiner Eltern hat sie im Jahr 2005 für uns aufgeschrieben, woran Sie sich erinnert.
Zu Beginn des Jahres 1945 lebten meine Großeltern väterlicherseits, Cäcilia und Alois Griehl mit ihren 6 Kindern Gudrun (*1937), Baldur (*1938), Reiner (*1939), Renate (*1940), Peter (*1941) und Karin (*1943) auf einem Bauernhof in Warnikeim (Warnikajmy) , einem Gutsort in Ostpreußen, Ermland-Masuren, Kreis Rastenburg. Zu dem Bauernhof gehörten neben dem Wohnhaus auch Scheune, Nebengebäude, Acker, Wiesen und Weideland für die Pferde. Ein typischer Hof mit etwas Wald und weiten Feldern, durchflossen von einem kleinen Flüsschen, der Guber.
1935 hatten meine Großeltern in Paaris, im Ermland, geheiratet. Mein Großvater Aloysius (*1905) kam aus einer Landwirtschaft in Bürgerwalde. Bürgerwalde, Kreisstadt Mehlsack, liegt auch im Ermland. Neben seinen Brüdern Heinrich und Paul gab es noch die Schwester Maria. Die Eltern meines Großvaters, meine Urgroßeltern Paul und Maria, lebten nur bis 1937. Heinrich, der Bruder meines Großvaters, erbte 1933 den 45 Hektar großen Erbhof. Dieser war seit 1826 im Besitz der Familie Griehl. Die Geschwister wurden ausgezahlt, mein Großvater Aloysius bekam 10.000 Reichsmark, seine Schwester Maria Griehl bekam 7.000 Reichsmark und sein Bruder Paul bekam 6.000 Reichsmark.
Mein Großvater Alois studierte 1923/1924 an der Landwirtschaftsschule in Freckenburst und erwarb das Landwirtsdiplom. Danach war er mehrere Jahre auf einem großen Gut als Verwalter tätig. 1935 kaufte er das Grundstück in Warnikeim, wohin meine Großmutter Cäcilia nach der Heirat mit ihm zog. Meine Großmutter Cäcilia Stange (*1908) wurde als zweites von sieben Kindern in Kalkstein, Kreis Allenstein, geboren. Ihr Vater Valentin (*1879), katholischer Gastwirt, besaß dort ein Landwarenhaus mit dazugehöriger Dorfgaststätte. An Kirchentagen kehrten die umliegenden Bauern bei ihm ein, besorgten ihre Einkäufe und machten es sich nach dem Kirchgang im Dorfkrug gemütlich. Währenddessen packte meine Großmutter alle bestellten Posten zusammen und stellte es den Leuten in Rechnung. Meist wurde angeschrieben und erst nach der Ernte bezahlt. Mein Urgroßvater Valentin gehörte in Kalkstein neben Pfarrer und Lehrer zu den „Honoratioren“. Er hat den Bau der Kirche von Kalkstein finanziell unterstützt und besaß darin auch seinen Stammplatz. Meine Urgroßmutter Johanna (*1881) war eine fromme Frau, die mit 48 Jahren an Magenkrebs starb. Mein Urgroßvater verstarb 1932 mit 53 Jahren.
Die Flucht
Ende 1944 / Anfang 1945 lebten meine Großeltern Alois und Cäcilia mit den Kindern noch relativ ruhig in ihrem Dorf. Wie die meisten Deutschen glaubte auch meine Großmutter der Propaganda Hitlers. An ein Verlassen ihrer Heimat hatte Sie nie gedacht. Mein Großvater, der damals 40 Jahre alt war, wurde nicht eingezogen. Er war im Hinterland für die Versorgung der Soldaten verantwortlich und half, den Nachschub von Lebensmitteln und Pferden sicherzustellen. Ostpreußen galt damals als Kornkammer und da die Mehrzahl der jungen deutschen, arbeitsfähigen Männer an der Front waren, bekamen die Höfe Fremdarbeiter zum Arbeiten auf den Feldern zugeteilt. Zum Hof meiner Großeltern wurden Polen geschickt, sie wohnten im Insthaus. Als sich die Lage zunehmend verschlechterte und die Russen vor Ostpreußen standen, wurde mein Großvater zum Volkssturm beordert. Durch seine direkten Beziehungen zum Heeresamt für Versorgung war ihm die kritische Lage Ostpreußens bekannt und er bestand darauf, dass meine Großmutter mit den Kindern Warnikeim und damit Ostpreußen verlassen sollte. Der einzige mögliche Weg zu diesem Zeitpunkt war über die Ostsee mit einem Schiff vom Königsberger Hafen Pillau aus. Alle Straßen waren schon mit Flüchtlingen und Militärfahrzeugen verstopft. Zwei der Kinder, mein Vater Reiner (6) und meine Tante Renate (5) waren Ende 1944, als die Front ständig hin und her verlief, zu ihren Tanten Maria und Hilde (Schwestern meiner Großmutter Cäcilia) nach Kalkstein gebracht worden. Da Kalkstein etwas südwestlicher liegt, glaubten meine Großeltern, dass die Flucht von dort einfacher und ungefährlicher für die Kinder wäre. So flüchteten mein Vater Reiner und seine Schwester Renate mit ihren Tanten getrennt von den übrigen Geschwistern und meiner Großmutter. Alle Anderen, meine Großmutter, das Hausmädchen Grete (18), Gudrun (8), Baldur (7), Peter (4) und Karin (1,5) fuhren nach Königsberg, wo sie zunächst bei einer Tante meiner Großmutter übernachteten, um von dort aus nach Pillau, zum Hafen von Königsberg, zu fahren. Mehrmals mussten sie aufbrechen, um einen Zug nach Pillau zu bekommen. Die Züge waren immer restlos überfüllt, es gab viel zu wenige für die vielen Menschen. Nur Frauen und Kinder durften in die Züge steigen und bei den langen Wartezeiten auf dem Bahnhof waren die Kinder alle übermüdet. Grete hatte die kleine Karin auf dem Arm und ein weiteres Kind an der Hand, meine Großmutter hatte die zwei anderen Kinder an der Hand. Es war ein furchtbares Gedränge, einige Kinder verloren schon hier ihre Mütter. Zu all dem kam noch die furchtbare Kälte von -18 Grad. Für die Kinder hatte meine Großmutter dicke Wollmäntel nähen lassen, innen mit einem jeweiligen Namens- und Adressenschild versehen, falls sie verloren gehen sollten. Außerdem trugen Gudrun und Baldur einen Rucksack, aber beide mussten die Rucksäcke bald irgendwo liegen lassen, so dass sie außer einer Aktentasche mit einem Fotoalbum und Versicherungspolicen sowie einer Pistole nichts mehr besaßen. Endlich hatten sie es geschafft und kamen in Pillau an, wo alle in einer Schule unterkamen. Jede Familie saß mit ihrem Gepäck zusammen und wartete auf den Abmarschbefahl zum Schiff. Nach zwei oder drei Tagen kam dieser endlich und Ende Januar 1945 konnte meine Großmutter mit Grete und den 4 Kindern auf die „Robert Ley“. Meine Großmutter bekam für alle sechs zusammen eine Kabine mit Doppelstockbetten zugewiesen. Auch hier auf dem Schiff war meine Großmutter immer in ständiger Sorge um ihre Kinder Reiner und Renate, seitdem sie wusste, dass ihre Schwester Maria mit ihnen auf die „Wilhelm Gustloff“ gehen wollte. Die „Wilhelm Gustloff“ lag in Gotenhafen vor Anker und sollte die vielen wartenden Mütter und Kinder aufnehmen. Vorher war die „Wilhelm Gustloff“ im Einsatz für Verwundete und Truppentransporte gewesen. Noch während meine Großmutter Cäcilia und die Kinder auf der „Robert Ley“ fuhren, erreichte diese der Funkspruch an Bord, dass die „Wilhelm Gustloff“ mit tausenden Flüchtlingen durch Torpedos eines russischen U-Bootes gesunken sei. Es war der 30.Januar 1945 und sie glaubten, mein Vater Reiner und seine Schwester Renate seien mit der „Wilhelm Gustloff“ untergegangen. Wie lange sie auf der „Robert Ley“ fuhren, daran konnten sie sich nicht erinnern. Wegen akuter Minengefahr mussten sie mitten auf der Ostsee in einen Fischkutter umsteigen. Bei der Umsteigeprozedur wäre beinahe die streng gehütete Aktentasche ins Wasser gefallen, aber ein Matrose fing sie geistesgegenwärtig auf und rettete das Fotoalbum. Das nächste Ziel der Gruppe war der Ostseehafen Swinemünde mit geplantem Weitertransport in den Raum Hamburg. Als Treffpunkt für die Familie war Kühlungsborn verabredet. Seit ihrer Ausbombung in Hamburg wohnte Friedel, eine Schwester meiner Großmutter, mit Mann und Tochter Gesine hier in Kühlungsborn. Außerdem waren an diese Adresse auch die Pakete mit warmen Sachen aus Warnikeim gegangen. Die größte Überraschung in Kühlungsborn aber waren mein Vater Reiner und seine Schwester Renate. Ihre Rettung hatten sie einer abergläubischen Nachbarin Großtante Marias zu verdanken. Diese träumte in der Nacht vor dem Auslaufen des Schiffes, dass die „Wilhelm Gustloff“ sinken werde. So haben sie mit einem anderen Schiff Gotenhafen verlassen. Bis auf meinen Großvater, der weiterhin in Ostpreußen die Stellung halten musste, war die Familie Griehl nun wieder vereint.
Im Februar 1945 bekamen alle im I. Stock eines Hauses in Kühlungsborn Unterschlupf. Hier lebten nun meine Großmutter Cäcilia, Grete, die Tanten Maria und Hilde und die sechs Kinder. Gudrun und Baldur wurden in der Schule in Kühlungsborn angemeldet. Es wurde Frühling und alle warteten auf den Vater. Eines Morgens im Mai 1945 lag ein fremder Mann mit Stoppelbart in einem der Betten. Es war mein Großvater Alois. Immer kurz vor der Roten Armee war er Richtung Kühlungsborn unterwegs, mal mit fliehenden Militärautos, mal mit geklauten Fahrrädern, mal zu Fuß. Nun war der Ernährer der Familie wieder bei ihnen. Die Kinder hatten immer Hunger. Lebensmittel gab es nur auf Karten. Mein Großvater verdingte sich als Verwalter auf einem Gut in Wittenbek nahe Kühlungsborn und konnte so jeden Abend Milch und Essen mitbringen. Nach dem Krieg kam die Russen nach Kühlungsborn, es gab nun ständige Kontrollen und Hausbesuche. In Kühlungsborn wollten sie nicht länger bleiben. Meine Großeltern mussten mit sechs Kindern aufs Land, zumal mein Großvater gelernter Landwirt war. Sein Freund Alfred Ankermann und Nachbar Belau aus Warnikeim schrieben aus Uhrsleben, dass dort eine Neubauernstelle zu haben sei. Mein Großvater bekam die Neubauernstelle von 8,73 Hektar Land mit zwei Prachtexemplaren von Ochsen. So zogen alle 1946 nach einem Jahr in Kühlungsborn nach Uhrsleben in das große Haus, wo auch die alten Belaus wohnten. Sie lebten sich allmählich in Uhrsleben ein. Die Kinder besuchten auch die dortige Grundschule (4 Klassen in einem Raum). Damals, 1946/47, gab es nicht nur Stockschläge von den Lehrern auf die Handinnenflächen, es wurde auch kräftig an den Ohrläppchen gezogen. Die „Umsiedlerkinder“ warfen immer begehrliche Blicke auf die dick mit Wurst belegten Schulbrote der Bauernkinder. Wenn Kartoffelkäfersammelaktionen stattfanden, wurden alle vom Schulunterricht befreit. Die Käfer oder Larven kamen in Marmeladengläser. Sie wurden reingezählt, pro Stück gab es 1 Pfennig.
Mein Großvater war ein großer Organisator. Meine Großmutter hatte mit den Kindern und dem Haushalt zu tun. Sie brauchte nicht mit aufs Feld zu gehen. In den Jahren 1946/47/48 gab es bei ihnen ein ständiges Kommen und Gehen. Meine Großtanten Maria und Hilde kamen aus Ostpreußen zurück. Sie waren zwischendurch im Mai/Juni 1945 wieder nach Kalkstein zurückgefahren in der Annahme, dass die Russen ihnen ihr Eigentum lassen würden. Nach schmerzhaften Erfahrungen, Drangsalierungen und Denunzierungen tauchten sie 1946 wieder in Uhrsleben auf. Meine Großtanten wollten nach diesen Erfahrungen auf keinen Fall in der sowjetischen Besatzungszone bleiben. Mein Großvater schleuste sie über die Grenze in den Westen. Sie haben Zeit ihres Lebens die sowjetische Besatzungszone nie mehr betreten. Zu Hause bestanden die Pflichten der Kinder in Feldarbeit auf dem Acker, wie Rübenverziehen, Rübenhacken, Getreide zu Garben bündeln, aufstellen und mit dem Ochsenwagen in die Scheune bringen, Kartoffeln auflesen, Zuckerrüben ernten. Das Ochsengespann wurde vorwiegend von Bodo und Reiner betreut. Zu arbeiten gab es immer. Daher hat sich auch für die Landwirtschaft von meinen Onkeln und Tanten nur Peter interessiert. Er wurde Facharbeiter für Landwirtschaft und arbeitete für einige Zeit in der LPG Uhrsleben.
Der Bruder meiner Großmutter, Großonkel Alois, kam unverletzt aus dem Krieg. Die zwei anderen Brüder meiner Großmutter galten als vermisst. Alois blieb 2 Jahre lang bei den Griehls als Knecht. Er musste bei meinem Großvater schwer arbeiten, was meiner Großmutter Cäcilia nicht gefiel. Nach den 2 Jahren siedelte Großonkel Alois nach Essen über, wo er in der Kohlegrube Arbeit fand. Durch Vermittlung heiratete er Gertrud, eine junge Frau, die als 16-jährige nach Sibirien in ein Arbeitslager verschleppt worden war. Beide waren sehr glücklich. Leider verunglückte mein Großonkel Alois Ende 1950 im Stollen tödlich.1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet, ein Arbeiter- und Bauernstaat entstand. Als Bauernkinder hatten meine Tanten und Onkel nun die Möglichkeit, die Oberschule zu besuchen und Abitur zu machen, um später zu studieren. Gudrun, Reiner, Peter und Karin kamen nach der jeweiligen Ausbildung und dem Studium nach Magdeburg. Noch Anfang der sechziger Jahre war Wohnraum in Magdeburg sehr knapp und wurde nur durch die Wohnraumstelle zugewiesen, pro Person ein Raum. Wohnungsinhaber mussten überzählige Räume möbliert bzw. unmöbliert weitervermieten. In den über 30 Jahren, die meine Großeltern in Uhrsleben wohnten, entwickelten sich kaum Freundschaften zu den Einheimischen. Als LPG-Vorsitzender engagierte sich mein Großvater sehr und war in vielen Funktionen tätig. Er wurde als „Meisterbauer“ ausgezeichnet und mit einer Reise nach Kiew belohnt. In seiner Freizeit war er leidenschaftlicher Jäger und besaß sogar eine eigene Doppellaufflinte aus Suhl, eine „Merkel“. Immer, wenn es seine Zeit erlaubte, ging er auf die Pirsch. 1982 verstarb mein Großvater Alois mit 78 Jahren, meine Großmutter Cäcilia folgte ihm 1983 mit 75 Jahren.